Die Atlas-Nordwand
Auszug aus der Fahrtenchronik der Marokkofahrt des Mädchenwandervogel Solveigh
03. Januar
Schon als wir aus dem Flugzeug stiegen, war uns klar, wir sind nun in einem völlig anderen Land. Wir sind in Afrika! Genauer gesagt in Marrakesch, Marokko. Statt grau-nebligem Regenwetter empfing uns die wärmende afrikanische Sonne…
In Marrakesch angelangt waren unsere Sinne schier überfordert von den vielen neuen Eindrücken. Überall buntgekleidete Menschen, teils westlich, teils traditionell; auf den Straßen bewegten sich ohne erkennbare Ordnung Pferdekutschen, klapprige Pkws, Mofas mit zwei und mehr Passagieren, Muli-Reiter, Lastwagen vollgepackt mit Tieren und Fahrradfahrer in halsbrecherischem Tempo durcheinander.
Doch nun hieß es einen günstigen Schlafplatz auszuhandeln, also machten wir uns auf, stürzten uns ins Getümmel der Menschenmassen und hätten ohne die freundliche Hilfe eines Marokkaners kaum das vorher als Treffpunkt vereinbarte Billighostel im Gewirr der Gassen gefunden. Unerprobt im Handeln wurden uns erstmal 350 Dirham – also 35 Euro – für ein Zimmer, das wir zu fünft bewohnten, abgeknöpft. Doch der Blick von der Dachterrasse, von der aus man das Zentrum Marrakeschs und den berühmten Hauptplatz „Djema el Fnaa“ gut überblicken konnte, entschädigte dies. Wir sattelten ab und machten uns auf – teils befangen, vor allem aber neugierig –, um den Djema el Fnaa und die umliegenden Souks – so werden die Märkte dort genannt – zu erkunden.
Auf dem großen Platz tummelten sich Schlangenbeschwörer, Affenbezwinger und Artisten, allerlei exotisches Getier wie Minischildkröten, Geckos und Echsen. Daneben waren Stände mit Trockenfrüchten und Orangen aufgebaut. In dem schummrigen Gassengewirr der Souks konnte man sich vor den geschäftstüchtigen Marokkanern kaum retten und musste auch noch darauf achten, nicht von Mofa- oder Fahrradfahrern kaltgemacht zu werden. Zum Mittagessen gönnten wir uns eine Tajine, ein traditionelles Essen hier, dann genossen wir die afrikanische Sonne auf der Dachterrasse und warteten auf Sigrids und Lottes Ankunft.
03. Januar
Im Flugzeug lernten Lotte und ich Aladin kennen. Ein Marokkaner, der aber seit geraumer Zeit in Deutschland lebt. Er übersetzte noch mal die Arabisch-Sprachliste und verbesserte unsere Aussprache. So wurden wir noch etwas mehr auf unser Fahrtziel eingestimmt.
In Marrakesch angekommen empfing uns die marokkanische Nacht mit ihren fragwürdigen Gestalten. Wir waren nur wenige Schritte gegangen, als uns das erste Mal Haschisch angeboten wurde. Schnell ließen wir den Park hinter uns, Richtung Hauptplatz, und hatten schon bald unseren Treffpunkt erreicht. Da standen unsere drei Bellas auch schon. Tausende Kilometer von zu Hause entfernt fallen wir uns in alter Vertrautheit um den Hals.
Gemeinsam suchen wir das Hostel Hayet auf und beziehen zu fünft ein Zimmer, das damit zwar aus allen Nähten platzt, aber auch an Gemütlichkeit gewinnt. Trotz vorherrschender Müdigkeit wagen wir noch einen nächtlichen „Zug durch die Gemeinde“. Der Proviant wird an den Marktständen durch frisches Gemüse aufgestockt. Wie gut, dass Lotte hier im vergangenen Jahr bereits auf Fahrt war. So hatten die verkaufstüchtigen Händler es schwer, uns übers Ohr zu hauen. Außerdem lernten wir so Gunpowder, einen starken grünen Tee, kennen, der uns an den Fahrtentagen den Kaffee ersetzen soll und die nötige Energie für die Berge bringt.
Ein schnelles Abendessen mit Bohnen-Eintopf und gefüllten Fladen gibt es noch, bevor die Müdigkeit uns endgültig übermannt. Im Hotel müssen wir nur noch die eindeutig-zweideutigen Angebote des Portiers abwehren, bevor wir in einen dumpfen, schweren Schlaf fallen.
04. Januar
Wir machen uns zeitig auf die Socken, um den Bus in die Berge, nach Azilal, zu erwischen. Dennoch gönnen wir uns eine Dusche, – vermutlich die letzte für längere Zeit. Wir traben quer durch die Stadt. Auf den Straßen herrscht schon geschäftiges Treiben: Maultierkarren bahnen sich ihren Weg zwischen vollgepackten Lastwagen, hier und da wird versucht, dem Staub und Dreck Herr zu werden.
Am Busbahnhof angekommen wollen uns gleich fünf verschiedene Männer Bustickets andrehen – natürlich zu Phantasiepreisen. Wir wimmeln sie erfolgreich ab und bekommen unsere Tickets zu einem halbwegs angemessenen Preis. Wider Erwarten haben wir noch Zeit bis zur Abfahrt. Wir gönnen uns zum Frühstück frischgebackene Fladen und den obligatorischen zuckersüßen Tschai.
Nach der schier endlos erscheinenden Busfahrt endlich in Azilal angekommen, sieht man schon die ersten Gebirgszüge. Mit dem Minibus geht es weiter. Aber nicht bevor wir uns mit frischen Mandarinen vom Markt eingedeckt haben. Ab jetzt herrscht Kopftuchpflicht, sonst fallen wir mit unseren blonden Schöpfen zu sehr auf.
Eingeengt zwischen gefühlten 20 Berbern, die uns alle neugierig begutachten, geht es über holprige Pisten in die Berge hinein. Ein freundlicher junger Mann, der Guide ist und sich im Hohen Atlas auskennt, stattet uns noch mit Tipps für unsere bevorstehende Bergtour aus. Trotz enger Kurven und steil abfallenden Hängen, kommen wir heile in Tabant an, einem größeren Berberdorf auf ca. 2.000 m Höhe. Unsere Startposition mitten in den Bergen. Nächtigen dürfen wir im Haus eines netten aber wortkargen Berbers, der uns als Nachtmahl noch Brot, Oliven, gebratenes Ei und Tee von seiner Frau servieren lässt.
Dieses Quartier hatte uns ein Mitfahrer organisiert, damit wir nicht im Dunkeln noch auf die Suche nach einem geeigneten Schlafplatz gehen müssen. Wir spüren schon die Temperaturen, die oben in den Bergen etwas frostiger ausfallen, und mummeln uns tief in unsere Schlafsäcke, um Kräfte für den bevorstehenden ersten Pass zu sammeln.
05. Januar
Anfangs folgten wir noch steinigen, staubigen Eselspfaden, doch je höher wir steigen, desto undeutlicher wird unser Weg und wir haben nur noch den 3.000 m hohen Pass vor Augen, an dem wir uns orientieren. Der Pass ist unser Tagesziel, aber wie es das Schicksal will, führt uns „unser persönlicher“ Weg natürlich nicht auf die übliche Weise nach oben. Irgendwo müssen wir uns verstiegen haben. Immer wieder vermuten wir im stetig tiefer werdenden Schnee unseren Pfad. Wir liegen aber völlig daneben. Inzwischen kämpfen wir uns durch knietiefen Schnee den gefühlt senkrechten Berghang hinauf.
Jeder Schritt wird vorher sorgfältig abgesichert, die Füße mit letzter Kraft zum sicheren Stand in den nur oberflächlich gefrorenen Pulverschnee gerammt, um ja nicht in den Abgrund zu stürzen. Je höher wir kommen, desto tiefer wird auch der Schnee und immer wieder sacken wir hüfttief ein. Das kostet Kraft und Zeit. Langsam begreifen wir, dass wir es vor Einbruch der Dunkelheit nicht mehr auf den Pass schaffen werden.
Mit letzten Kräften wühlen wir uns nun quer zum Hang durch eine tiefe Schneewehe rüber zu einem großen Felsbrocken. Die letzten Meter wollen nicht enden, aber irgendwie schaffen wir es doch. Für heute ist hier Schluss.
Vor Sonnenuntergang schaffen wir es nicht mehr ganz rauf. Am Felsen schaufeln wir uns zwei Kuhlen in den Schnee, in denen wir „schlafen“ können. Schnell wird etwas in der eisigen Kälte der anbrechenden Nacht gekocht, sich schnatternd der klatschnassen Sachen entledigt und dann in die Schlafsäcke gemuckelt. So eng, steil, hart und absolut ungemütlich.
06. Januar
Wir fühlen uns wie in dem Film „Nordwand“, – wahrscheinlich aber nur mit dem einzigen kleinen Unterschied, dass es in „Nordwand“ noch kälter gewesen sein muss, denn wir leben noch – Alle! Es hat zwar keiner von uns auch nur ein Auge zugetan, aber immerhin, wir haben es überlebt, sind nicht den Hang runtergerutscht und haben erstaunlicherweise keine Erfrierungen. Die Sonne bahnt sich nur langsam ihren Weg über den Pass auf unseren Hang, so dass wir gezwungen sind, noch lange in der Kältestarre zu verharren.
Als die Sonne langsam näher kommt zu unserem „Stein des Schattens“, entdecken wir oben am Pass plötzlich drei Berber mit Eseln und Kühen, die halbwegs entspannt und aufrecht durch den Schnee am Hang hinunter gehen können.
Da musste also der Weg sein! Wir schöpfen neuen Mut. Als wir uns endlich aus den Schlafsäcken schälen, können wir das Ergebnis der letzten Nacht begutachten. Steifgefrorene Socken, die alleine stehen können, und gefrorene Schuhe, bei denen man Acht geben muss, dass sie beim Anziehen nicht brechen.
Nach einem kurzen Tee- und Müsli-Frühstück, gekocht mit Schnee, brechen wir auf, um das letzte Stück unserer „Nordwand“ zu bezwingen (es ist wirklich eine Nordwand, deswegen auch der viele Schnee und Schatten). Dasselbe Spiel wie gestern. Immer wieder brechen wir hüfttief ein, kommen kaum voran und merken, dass es doch weiter und steiler ist, als es von unten aussah. Die Hände sind schon wund und blutig von den harten, dornigen Sträuchern, die stellenweise aus dem Schnee ragen und zum „Dran-Hochziehen“ einladen.
Irgendwann haben wir es dann geschafft und erreichen den Pfad. Dankbar und erschöpft werfen wir uns erst einmal in den vereisten Pfad, der wie eine Bobbahn in den Hang gegraben ist und gönnen uns unser verdientes Stückchen Schokolade. Was für ein Komfort…
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