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Als Werner Helwig das Trampen erfand – oder: Die Waldeck, eine Dokumentation von Gabi Bollinger

Samstagabend. Kurz vor acht. Chips und Cola stehen bereit und das Schwarzzeltvolk versammelt sich vor dem Bildschirm. Auf dem Spielplan steht „Die Waldeck“. Ein Dokumentarfilm von Gabi Heleen Bollinger dessen Trailer in den vergangenen Wochen die Runde machte.
Hier ein Versuch in Worte zu fassen, was bei uns vom Film hängen blieb.

Der fast neunminütige Zusammenschnitt hatte es leicht bei uns Interesse zu wecken. Zwei von uns waren schon selbst auf Burg Waldeck, aber vor allem ist es doch einer dieser bündischen Sehnsuchtsorte. Ein Ort um den sich Geschichten ranken, an dem damals bedeutende Dinge geschehen sind und bei dem auch große Namen mitklingen. Der Nerother Wandervogel, die Liedermacher, Reinhard Mey, Hannes Wader und wie sie alle heißen..

Das sind Bilder, derer sich auch Gabi Bollinger in ihrem Film bedient. Die ersten Szenen zeigen eine Autofahrt durch den Hunsrück und aus dem Off zitiert eine Stimme aus Werner Helwigs „Auf der Knabenfährte“, nicht nur einen Satz, als vorangestelltes Zitat, sondern einen ganzen Abschnitt. Aber ehrlich gesagt muss man das Cover der DVD zu Rate ziehen um zu verstehen was da zitiert wird.

Einmal auf Burg Waldeck angekommen übernimmt Gabi Bolliger, die Macherin des Films selbst das Wort. Nach mehr als dreißig Jahren sei sie zurückgekehrt, weil sie gehört habe, dass wieder etwas los sei, auf Burg Waldeck. Zunächst scheint der Film als persönliche Spurensuche zu beginnen, Gabi Bollinger schildert ihren persönlichen Bezug zur Waldeck und ihre subjektive Motivation den Film zu machen. Und schon ist man Mitten in den sechziger/siebziger Jahren, bei den Festivals. Hein und Oss Kröher kommen zu Wort, dann Tschaika aus Berlin und Schlagsaite, die im Hier und Jetzt ihren Beszug zur Waldeck artikulieren.

Wenig später läuft ein älterer Herr mit Regenschirm über eine Wiese, sucht am Fundament einer Hütte nach den Resten der „ersten Bühne“ die aber „abgefackelt wurde“. Und wir Fragen uns vor dem Bildschirm welche Bühne und warum wurde sie abgefackelt? Gabi Bollinger betont, dass sie damals noch gar nicht dabei war, weil sie zu jung und außerdem in Afrika gewesen sei. Es sei eine wilde Zeit gewesen. Ja, und unübersichtlich möchte man antworten.

Nach ungefähr 20 Minuten erwähnt Gabi Bollinger zum ersten Mal den Nerother Wandervogel. Der Wortlaut sinngemäß: „ABW hinter der linken Tür und Nerother hinter der rechten Tür.“ „Ich bin an den Nerother Wandervogel geraten.“ Damit ist die Verortung eindeutig und leider auch zementiert, denn auch die folgenden 90 Minuten Film zeigen kein differenzierteres Bild der Verhältnisse zwischen ABW und Nerother Wandervogel. Es bleibt bei „die einen links, die anderen rechts“, was in Beszug auf die von beiden Gruppen bewohnten Haushälften ein historischer Fakt sein mag, an dieser Stelle des Films aber eine völlig überflüssige Information ist, so lange man damit nicht unterschwellig eine politische Verortung beider Gruppen suggerieren möchte.

Immerhin findet der Film, der von der Stiftung Rheinland-Pfalz für Kultur und Saarland Medien GmbH gefördert wurde, im Mittelteil eine Spur und verfolgt für mehr als eine halbe Stunde sehr stringend die Geschichte des Nerother Wandervogels von der Gründung bis zu seiner Auflösung in der Nazi-Zeit. Alles andere bleibt an entscheidenden Stellen oberflächlich und durch Schnitt und Zeitsprünge verwirrend.

Das ist schade. Denn der Film basiert auf einer ganzen Sammlung grandiosen Materials. Da wären die Interviews. Hein und Oss Kröher kommen zu Wort. Hannes Wader resümiert über die Zeit der Festivals und lässt in einem Nebensatz sogar durchblicken wie gerne er selbst damals einer dieser Bündischen gewesen wäre.
Schlagsaite und Tschaika sprechen über die Bedeutung der Waldeck für junge, bündische Liedermacher heute. Zahlreiche Mitglieder der ABW kommen zu Wort. Hay und Topsi hat Gabi Bollinger in Schweden besucht und in Frankfurt mit Berry gesprochen, der in der Nazizeit mit seiner Gruppe in den Widerstand ging. Dazu kommt ein jede Menge historisches Filmmaterial und Fotos, die für den Film aufbereitet wurden.

Das meiste davon ist sehenswert, aber viele der Interviews wirken zerstückelt, werden immer wieder unpassend unterbrochen und einzelne Aussagen damit aus dem Zusammenhang gerissen. So fügen sich die Sätze nur schwer zu einem Gesamtbild. Immer wieder fragt man sich wovon da grade die Rede ist. Selbst eine zeitliche Einordnung mancher Aussagen des Films fällt schwer.

Es fehlt der Kontext der dem Zuschauer hilft die Wirren rund um die Waldeck einordnen zu können. „Die Waldeck“ mag ein großes und komplexes Thema sein, dass sich nicht einfach in 120 Minuten Film pressen lässt. Umso mehr wünscht man sich als Zuschauer einen roten Faden, an dem man sich entlang hangeln kann. Aber der Film von Gabi Bollinger verpasst es schon im ersten Drittel all das was er zeigen will zu strukturieren. Einfach mal vorne Anfangen und von da an die Geschichte der Waldeck chronologisch erzählen, wäre eine Möglichkeit gewesen. Damit hätte man zwar keinen Autorenpreis gewinnen können, es dem Zuschauer aber einfacher gemacht den Geschehnissen zu folgen.

Statt dessen springt der Film – gefühlt – innerhalb von zehn Minuten aus der Gegenwart in die siebziger Jahre, von dort in die sechziger, wieder zurück in die Gegenwart und dann in die zwanziger, ohne, dass dafür ein dramaturgischer Grund erkennbar ist. Der gesamte Film wirkt, wie eine Art Schuttberg der vor dem Zuschauer ausgekippt wird. Darin finden sich zahlreiche Schätze, großartige Interviews und spannende Originalaufnahmen. Nur mit der Aufgabe diese Schätze zwischen verwirrenden Sprüngen und abrupt gesetzten Schnitten zu finden, wird der Zuschauer alleine gelassen.

Das Unvermögen des Films das gesammelte Material wirken zu lassen wird besonders beim Einsatz der zahlreichen Lieder deutlich, die teilweise aus historischen Aufnahmen eingespielt werden, teilweise von den Machern selbst mitgeschnitten wurden . Mehrfach werden Lieder schon nach zwei Versen wieder zum Verstummen gebracht und dem Zuschauer damit jede Chance genommen sich in Text und Melodie einzufühlen.

Andere Lieder werden durch schier dilettantischen Schnitt ihrer gesamten Wirkung beraubt. „Aus anderem, besserem Holz“ von Schlagsaite wird mit einem anderen Liedbeitrag des Peter-Rohland-Singewettstreits parallel montiert. In Abschnitten von wenigen Sekunden flimmern jeweils Bruchstücke beider Lieder über den Bildschirm und übrig bleibt nichts, außer Irritation beim Zuschauer.
„Wo sind eure alten Lieder?“ singt Franz Josef Degenhardt und liefert mit diesem Lied eine perfekte Vorlage zu einem der zentralen Themen rund um die Waldeck überzuleiten. Die Fragen nach dem Umgang mit der Vergangenheit, mit der tiefen Wunde, die der Nationalsozialismus im deutschen Volkslied und auch der bündischen Seele zugefügt hat. Aber statt diese Vorlage zu nutzen zerreißt der Film das Lied in zwei Hälften und nimmt ihm damit alle Aussagekraft, zerstört es förmlich.

An anderen Stellen des Film scheint es den Filmemachern schlicht am Vermögen zu mangeln Inhalte mit Bildern zu unterstreichen. „Eiszeit mitten im Sommer. Juni 1933.“ heißt es durchaus treffend, als der Film wieder einmal die Geschehnisse auf der Burg in den dreißiger Jahren aufgreift. Allein, dass die Kamera dazu über die schneebedeckten Äcker des Hunsrücks schwenkt will so gar nicht zum Kommentar aus dem Off passen. Einer von vielen unfreiwillig komischen Momenten im Film.

„Die Waldeck“ ist kein Film über den Nerother Wandervogel. Dass er über weite Teile die Burg und die historischen Geschehnisse aus Perspektive der ABW betrachtet ist im Grunde logisch und nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass der Nerother Wandervogel heute, selbst innerhalb der bündischen Szene vieles seiner Bedeutung verloren hat. „Man sieht sie kaum.“ Und „Die sind selten da“ sind zwei Kommentare aus dem Film, die diesen Eindruck bestätigen.

Dennoch: Die Waldeck lässt sich nicht erklären, ohne den Versuch zu wagen den Nerother Wandervogel zu verstehen. Und man sollte meinen, man käme dabei nicht an der Frage vorbei was Nerother und ABW gespalten hat.

Okay, Gabi Bollinger zeigt den Stacheldraht bewehrten Zaun, der heute mitten durch das Burggelände führt und Nerother und ABW von einander trennt. Aber sie belässt es bei der Feststellung, dass die da drüben den Zaun gebaut hätten und der Frage, was das wohl für Menschen seien, die so etwas tun.

Okay, sie hat bei FM, dem aktuellen Bundesführer der Nerother angefragt, ob sie auf dessen Seite des Zaun drehen dürfe. Aber es darauf beruhen zu lassen, dass man, wie zu erwarten war, eine Absage bekommen hat, ist wiederum deutlich weniger als man von den Filmemachern hätte erwarten können. Man muss nicht bei FM um Audienz bitten um sich ein Bild desssen zu machen, was aus dem Nerother Wandervogel von damals geworden ist. Ein Blick auf die Website der Nerother genügt um zu erkennen, dass von dem einst progressiven Anspruch Karl und Robert Oelbermanns heute nichts mehr geblieben ist.

Gabi Bollinger bleibt mit ihrem Film auf Abstand zu den wichtigsten Fragen, die sich zum Thema Waldeck stellen. Dabei liegen die Antworten direkt vor ihr.

Hat sie tatsächlich keinen ihrer Interviewpartner gefragt wie es damals dazu kommen konnte? Wie man heute dazu steht, dass mitten durch das Burggelände ein Zaun verläuft? Was denken die Zeitzeugen, sich damals mit den Nerothern der HJ verweigert haben über den Nerother Wandervogel heute? Gibt es keine aktiven Nerother außer FM die man hätte fragen können? Und wie steht eigentlich Fotler zu Stacheldraht auf der Burg? Sein Bund, der Zugvogel ist (nach dem Krieg gegründet) aus dem Nerother Wandervogel hervorgegangen und trägt bis heute viele der Traditionen, die Robert und Karl Oelbermann begründet haben weiter.

Und das sind noch nicht einmal die eindringlichsten Szenen des Films. Bei ihrer Recherche in den Archiven des Saarländischen Rundfunks und des SWR hat Gabi Bollinger eine Szene zu Tage gefördert die aus den späten sechziger Jahren stammen muss. Nerother Wandervögel, unter ihnen Karl Oelbermann, stehen vor dem Säulenhaus und singen Ty Morjak. Um sie herum skandiert eine mindestens ebenso große Gruppe von Menschen lautstark „Nazis raus!“.

Nazis raus! wird da Menschen an den Kopf geworfen, die einem der wenigen Bünde angehören, der sich aktiv der Gleichschaltung durch HJ und SA widersetzt hat? Nazis raus! wird Karl Oelbermann an den Kopf geworfen, dessen Bruder wegen seiner „bündischen Umtriebe“ im KZ gestorben ist?
Gabi Bollinger scheint zu dieser Szene nicht viel eingefallen zu sein. Es finden sich keine Fragezeichen in ihrem Kommentar zu den Bildern. Aber sie betont noch einmal, dass die Nerother hinter der rechten und die ABW hinter der linken Tür des Säulenhauses wohnten.

Würde ich den Film jemandem empfehlen, der sich für die Geschichte der deutschen Jugendbewegung interessiert? Jemandem der die Begriffe Waldeck und Nerother schon einmal gehört hat aber darüber hinaus nicht viel dazu weiß? Oder jemandem der völlig unbedarft ist, dieses Thema betreffend?

Diese Frage ist nicht ganz einfach zu beantworten. Für einen soliden Überblick über die historischen Ereignisse ist man sicherlich an anderer Stelle besser aufgehoben. Selbst Wikipedia liefert zu den Stichworten „Burg Waldeck“ und „Nerother Wandervogel“ gutes Material und eine bessere Gliederung als der Film.

Wer sich aber darüber hinaus informieren möchte und bereit ist sich im Sammelsurium des Films auf Schatzsuche zu begeben, der wird auf viele spannende Einzelszenen und Zitate treffen. Diese einzuordnen erfordert neben Spürsinn auch einiges Vorwissen. Dafür bekommt man mehr als nur Burg- und Bundesgeschichte. Zum Beispiel erklärt Plauder gegen Ende des Films en passant und vielleicht ungewollt den wichtigsten Unterschied zwischen Pfadfindern und Wandervögeln. Noch so eine der vielen Perlen, die sich in diesem Film verstecken.

Nur in einem möchte ich Gabi Bollinger doch widersprechen. Im Gegensatz zu ihr glaube ich nicht, dass Werner Helwig das Trampen erfand.

Von:

WoHei kam als Spätberufener zum Christlichen Pfadfinderbund Saar. Heute lebt er in Köln, von wo aus es ihn häufig nach Norden zieht. Dort ist er unter anderem als Crewmitglied auf dem bündischen Segelschiff Mytilus unterwegs. Er fotografiert, schreibt und denkt für schwarzzeltvolk.de

2 Kommentare zu Als Werner Helwig das Trampen erfand – oder: Die Waldeck, eine Dokumentation von Gabi Bollinger

  • Lieber Wohei,
    was Du beanstandest, ist nicht ganz unberechtigt, jedoch geht Deine Kritik an der Intention des Films von Gabi Bollinger vorbei, da dieser keine Chronologie bieten, sondern die Faszinaton des Naturplatzes Burg Waldeck beschwören wollte. Sie nähert sich auf verschiedenen Wegen immer wieder dem Faszinosum, das sie letztlich bei den Liedern der dort am Lagerfeuer singenden bündischen Gruppen findet. Ob der Ruf „Nazis raus“ tatsächlich die Falschen traf, bin ich mir nicht so sicher wie Du, da die heutige Bundesführung des NWV wiederholt durch Äußerungen aufgefallen ist, die man sonst nur aus dem rechtsradikalen Lager kennt (s. Kapitel „Ausblick“ in: nerohm: Die letzten Wandervögel, S. 199 f.)
    Der neue Waldeck-Film hat Schwächen, was die historische Darstellung betrifft, seine Stärke besteht jedoch in der Vergegenwärtigung des Erlebens von bündischer Gemeinschaft beim Singen. Damit leistet der Film etwas Wichtiges, da er auf die gemeinschaftsbildene Kraft der Jugendbewegung hinweist, die nicht „veraltet“, sondern – ganz im Gegenteil – beispielhaft und hochaktuell ist.

    mit jungenschaftlichem Gruß
    zeko, Berlin

    • Hallo zeko,

      danke für deinen Kommentar.
      Das von dir angesprochene „Faszinosum der Lieder“ kann ich anhand des Films nicht nachvollziehen. Dafür zerhackt der Schnitt die gezeigten Liedbeiträge viel zu sehr. Konkrete Beispiele an welchen Stellen ich die Art wie der Film mit Liedern umgeht wirklich schlimm finde habe ich ja im Artikel genannt.

      Was die „Nazis-raus-Rufe“ angeht: Ich bin nicht der Meinung, dass es die Falschen getroffen hat. Ich habe gar keine Ahnung, wie sich der Nerother Wandervogel damals präsentiert hat. Aber ich wundere mich, dass Gabi Bollinger an dieser Stelle nicht nachhakt. Es scheint vielmehr so als sei die Sache für sie von Anfang an klar. Sie zementiert selbst mit ihrem Kommentar die politische Verortung von ABW und NWV, lässt aber eine Begründung für diese Parteinahme, oder einen kritischen Umgang mit diesem Thema vermissen. Das finde ich schade und eine vertane Chance.

      Viele Grüße,

      WoHei

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