Grenzerfahrungen… Wie der Gilwell-Kurs uns deutsche Geschichte lehrte
Dies ist ein Gastartikel von albi. Sie kommt aus dem Bund der Pfadfinderinnen und Pfadfinder. Im Rahmeneines Gilwell-Kurses hat sie sich auf Spurensuche an der ehemaligen innerdeutschen Grenze begeben.
Mehrere Tage waren nun seit unserer Ankunft im Bundeszentrum Immenhausen vergangen, aus allen Richtungen Deutschlands waren ca. 20 Teilnehmer eingetroffen, um sich eine Woche lang weiterzubilden und die nächste Generation der Gilwellträger zu werden. Unser Kurs, der unter dem Spielmotto „Tatort“ stand, brachte uns allerlei Wissen über unseren Bund und Möglichkeiten zu reflektieren über die eigene bisherige Arbeit an der Basis in Stamm und Landesverband. Die Kurstage waren lang, wurden aber täglich von Aktivzeiten, in denen wir aktiv an unserem Bundeszentrum arbeiteten, unterbrochen und klangen Abends in der Holzkohte mit Diskussionen, Gesang und Keksen aus.
Für die beiden Tage in der Mitte des Kurses, stand in unsrem Terminplan eine „Grenzerfahrung“, worunter wir uns erstmal noch nicht viel vorstellen konnten. Ich persönlich dachte an eine Art Schnitzeljagd, Geocaching oder Ähnliches, wo wir vielleicht auf die Leiche unsres Vorgängerbundes stoßen und uns bewusst werden, was damals geschehen ist, doch dem war nicht so.
Wir lassen uns also fallen in das Erlebnis, dem wir hier ausgesetzt werden mit einem Zeitsprung von 30 Jahren.
Asbach-Sickenberg im Jahr 1981
Wo man auch hinblickt sind nur Meterhohe Zäune und NVA-Soldaten zu sehen. Wir befinden uns in einem Dorf an der Innerdeutschen Grenze. Genau genommen, in einem Dorf auf dem Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik. Überall nur Zäune, Grenztruppen, Überwachungen und die Gewissheit, ein Schritt in die falsche Richtung kann tödlich sein. Das überqueren der nahegelegenen Werra? Unmöglich.
30 Jahre später, „Tatort“ Immenhausen.
Von der Kursleitung Staatsanwalt Ratzel und seinem Kommissar Gockel werden wir, die Teilgruppe „Bad-Sooden“ ins 60km entfernte Asbach, genau genommen ins Grenzmuseum Schifflersgrund verfrachtet, wo unsere Reise auf den Spuren der Innerdeutschen Grenze beginnen soll.
Wir haben einen Ortstermin mit einem Zeitzeugen der deutsch-deutschen Teilung. Beinahe nebenbei erkennen wir den erhaltenen Teil des Grenzzauns, der sich über knapp 1,5 km den Hang hinab erstreckt. Dahinter war „Westdeutschland“. Ein Wort, das für viele Bürger der ehemaligen DDR mit Freiheit verbunden war. Die Freiheit so nah, aber doch so fern.
Sehr viele haben in den 50 Jahren zu fliehen versucht, manch einem ist es gelungen, manch einem jedoch auch nicht. 3m hoch, 1,50m in der Erde tief steht er da, der Grenzzaun. Der Zaun an dem so viele ihr Leben lassen mussten, nur weil sie nicht länger gebückt leben wollten. So lauschen wir gebannt der Geschichte von Heinz-Josef Große, der einer derer war, die versuchten zu fliehen und es dadurch zu ungewolltem Ruhm schafften aber auch bitter dafür bezahlten.
Er versuchte 1982 mit Hilfe seines Radladers den Zaun zu durchbrechen und den Hang zu überwinden, denn dort wartete sie – die Freiheit. Unweit des Museums ist von der Aussichtsplattform sehr deutlich ein Holzkreuz zu sehen, die Stelle an der er von 9 Kalaschnikow-Schüssen hingerichtet wurde, 25m vor der rettenden Hessischen Landesgrenze. Den BGS Beamten die dort warteten, waren die Hände gebunden, denn die beiden Grenzsoldaten waren bereit, jeden Rettungsversuch zu verhindern. Heinz-Josef Große starb innerhalb weniger Minuten an dieser Stelle durch innere Blutungen.
Mit diesem Wissen im Hinterkopf beginnt die eigentliche Führung durch das Museum. Wir sind beeindruckt von der Masse an Sicherungen die es vor 30 Jahren schon gab. Nicht nur der Grenzzaun mit seinen Selbstschussanlagen, sondern auch weitere Ausstellungsstücke belegen die verzweifelten Versuche der Menschen zu fliehen.
Sehr bewegt von den Eindrücken machen wir uns also auf den Weg, zu unserem Tagesziel, nach Lindewerra. Stets entlang der ehemaligen Grenze führt uns unser Weg, die Werra begleitet uns.
Im Dorf angekommen empfängt uns der stellvertretende Bürgermeister der uns unseren Schlafplatz weist. Dort, wo früher Zäune und Soldaten waren, ist heute ein Bootsanleger. Die Brücke oberhalb des Platzes, ein Zeichen der Freundschaft und Verbundenheit, denn auf der anderen Seite ist Hessen. Dort, wo früher Menschenleben genommen wurden, übernachten wir. Noch lange sitzen wir in dieser Nacht um unser Feuer und diskutieren, bis uns der Schlaf übermannt.
Am anderen Morgen, nach dem Frühstück machen wir uns also erneut auf den Weg, erneut über die Grenze. Auf der Brücke noch einmal stehenbleibend gedenken wir der Opfer, die der Kalte Krieg in 45 Jahren forderte.
Heute, 21 Jahre nach der Öffnung der Grenzen, ist in der Bereich der einst als Todesstreifen galt, ein Rückzugsgebiet für viele vom Aussterben bedrohten Tier- und Pflanzenarten geworden, den Todesstreifen gibt es so nicht mehr.
Heute zieht sich ein grünes Band 870km durch Deutschland. Ein grünes Band zwischen Bayern, Hessen, Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen. Ein Fleck Landschaft der Natur zurück gegeben. Ein grünes Band, das es lohnt erfahren zu werden. Mit dem Wissen der innerdeutschen Geschichte sieht man die Landschaft gleich nochmal mit anderen Augen und kann sich mit ein wenig Vorstellungsvermögen bildlich vorstellen, wie es an diesem Ort vor 20 Jahren noch aussah, wie die Menschen auf der einen Seite frei waren und die auf der anderen Gefangene ihrer Regierung.
Bilder: Arne, BdP LV Niedersachsen
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