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Keine leichte Entscheidung – Der Hamburger Singewettstreit aus Jury-Sicht

Cantalle kommt aus dem PBN und ist schon seit einigen Jahren in der Jury des Hamburger Singewettstreits aktiv. Sie berichtet für uns wie sich so ein Wettstreit aus Sicht eines Jury-Mitglieds anfühlt und wie es ist nicht immer leichte Entscheidungen treffen zu müssen.

Die Jury des Finales bei der Arbeit

Die Jury des Finales bei der Arbeit

8.30h. Der Wecker klingelt. Heute ist Singewettstreit. Bis 11.45h müssen mein Sohn Livan und ich uns bei Sundré aus dem Vorbereitungskreis im Foyer des Philosophenturms der Uni Hamburg melden, um uns für die Jury einteilen zu lassen.

Seit Anfang der 90´er Jahre mache ich nun schon in der Jury des HSW mit, manchmal in der Vorentscheidung, manchmal abends, aber immer mit dem gleichen Spaß an der Sache.

Wie ich die Gruppen bewerte, hängt natürlich davon ab, welche Kategorie ich zugeteilt bekomme, denn es ist etwas völlig anderes, vor einer vielleicht noch nicht ganz zusammengewachsenen Kindergruppe zu stehen, als vor „alten Säcken“, die das schon ihr halbes Leben lang machen.

Heute werde ich den Sippen und Gruppen für die Vorentscheidung zugeteilt und habe meinen Freund und Jurykollegen Jogy vom BdP dabei – auch ein alter Hase und zwei Neueinsteiger: Vanessa von den Royal Scouts und Toppits, ebenfalls aus dem BdP.

Mein „Lütter“, der gar nicht mehr so lütt ist (Mist, ich werde alt), wird zu den Singekreisen eingeteilt und weg ist er…

Wir kleben uns unsere Juryschildchen an und nehmen erst einmal in Ruhe einen Kaffee in der Mensa, wo wir auf Freunde treffen und uns informieren, wer eigentlich dieses Jahr mitmacht.

Dann auf zur Jurybesprechung, in der Sundré mal wieder non chalant die diesjährigen Vorgehensweisen erklärt. In den Sippen z.B., treten je 4 Sippen in zwei Vorentscheidungsgruppen an, in denen jeweils eine Sippe direkt ins Audimax gewählt wird, zwei in den Hoffnungslauf geschickt werden und eine gleich ausscheiden soll. Wie es im Leben aber so ist – es kommt meistens anders, als man sich das vorher ausgedacht hat…

Unsere Jurygruppe rauft sich nach der Besprechung noch einmal zusammen und wir klären mit den neuen Jurymitgliedern die Vorgehensweise, denn Jogy und ich wissen, dass man als Neueinsteiger manchmal dazu neigt, zu sehr am Bewertungsbogen zu hängen, der zwar über die Jahre ein gut ausgereiftes Hilfsmittel geworden ist, aber dennoch nicht aller Weisheit Ende darstellt.

Die Besonderheit in der Bewertung der Sippen besteht eindeutig darin, dass wir sehr ungleiche Gruppen vergleichen müssen. Die einen, die sich schon am Ende ihrer Gruppenzeit befinden, gut eingespielt sind und auch ein gewisses „musikalisches Alter“ erreicht haben und solche, die mit vielen Wölflingen antreten, die vielleicht gerade einmal ein halbes Jahr auf dem Sippenbuckel haben.

So kann ich es z. B. einem kleinen Flötenkind eher verzeihen, sein Solo vergeigt zu haben, als einer 15-Jährigen, die eigentlich genau wissen müsste, ob sie ihre Bratsche zum Einsatz bringen kann, oder es doch lieber lassen sollte…

Es ist quasi immer wieder ein kleiner Eiertanz in den Weiten des Musikuniversums: Ist eine junge Gruppe höher zu bewerten, die zwar gerade, aber einstimmig singt, oder etwa eine alte Sippe, die sich an ausgefeilter Mehrstimmigkeit versucht und diese hier und da in den Sand setzt? Hat sich eine Gruppe mit ihren Lied „übernommen“ und hätte sie lieber etwas Einfaches besser gesungen, um unsere und die Ohren des Publikums zu schonen? Muss man sich auf dem HSW die immer wieder kehrenden Intonationskatastrophen antun, oder kann man es gerade den Sippen auch mal verzeihen, unter dem Motto „mitmachen ist alles“ und „schön, dass ihr es überhaupt versucht habt“?

Fragen über Fragen.

Letzendlich muss man die Waage finden. All diese Überlegungen fließen ein, immer im Blick jedoch, dass dies hier der größte deutsche Singewettstreit ist, zu dem 1600 Menschen, teilweise sehr weit anreisen…

Nun denn –  wir betreten den Hörsaal zur Vorentscheidung und sehen was zu erwarten war: Aufgeregte Kinder und Jugendliche, die, genau wie wir selbst früher einmal, zappelig und mit roten Ohren in den Reihen sitzen und warten das es endlich los geht.

Jogy übernimmt die Ansprache, es wird die Reihenfolge der auftretenden Gruppen per Los festgestellt und ab geht die Post. Die Jury sitzt vor ihren Bewertungsbögen, einer zählt die Teilnehmer in den Gruppen, damit nachher die entsprechende Anzahl Eintrittskarten ausgegeben werden kann und einer nimmt die Zeit (jede Gruppe hat 5 Minuten für ihren Vortrag… das scheint pingelig, trägt aber erheblich zum reibungslosen Ablauf im Audimax bei).

In meiner Vorentscheidung stehen wir genau vor dem Problem, dass ich eingangs schon beschrieben habe: Alte gegen Junge und auch große gegen eher kleine Gruppen. Und es passiert Folgendes (wir erinnern uns: Zwei Gruppen sollen in den Hoffnungslauf…):

Als alle gesungen haben, ziehen wir uns mit der Jury in ein nahe gelegenes Treppenhaus zurück, um erst einmal rein rechnerisch zu ermitteln, wer auf welchen Platz landet. Dabei zählen wir, jeder einzeln, unsere Punkte zusammen und ermitteln unsere Platzierungen. Dann werden die Platzzahlen (NICHT die Punktzahlen!) wiederum in eine Liste geschrieben, abermals zusammen gerechnet und hieraus ergibt sich die Totalplatzierung. Wer also die niedrigste Platzpunktzahl hat, hat den besten Platz. Nun ist es jedoch so, dass eine sehr junge Gruppe gegen eine alte Sippe steht. Die junge Gruppe liegt rechnerisch hinter der älteren, hat jedoch, unter Berücksichtigung des Altersunterschiedes auf gleichem Niveau gesungen.

So, nun haben wir den Salat.

Der erste und zweite Platz stehen fest. ie sind schonmal einstimmig und ohne Diskussion gewählt.

Nun aber die Frage, wen wir noch in den Hoffnungslauf lassen und wen wir sofort rauswählen. Unsere Köpfe rauchen, es wird heiß diskutiert, aber wir haben ja auch nicht bis zum St. Nimmerleinstag Zeit!

Also renne ich zum Jurystand und frage Sundré, ob wir DREI Gruppen in den Hoffnungslauf schicken dürfen. Erstaunen auf Sundré´s Gesicht und die Frage: „Wieso, sind die alle gleich gut?“. Ich überlege. Und antworte: „Nein…alle eher gleich schlecht…“. Scherz beiseite – ich erkläre Sundré das Generationsproblem und sie gibt mir grünes Licht für alle drei Gruppen.

Zurück bei der Jury fällt allen ein Stein vom Herzen.

So teilen wir den Sippen unser etwas abgeändertes Ergebnis mit – natürlich ohne Nennung der Platzierungen. Ein Durchatmen geht durch den Saal. Noch ist keiner verloren!

Wir wissen ganz sicher, dass dies´ hier die richtige Entscheidung ist!

Bestätigt wird dieses Wissen im Hoffnungslauf, in dem ich jene Sippen noch einmal bewerte, mit einer neu zusammengestellten Hoffnungslauf-Jury. Denn siehe da: Der Wackelkandidat aus der Vorentscheidung liegt hier ganz weit vorne! So kann es gehen. Die Vermutungen, dass einige musikalische Fehlgriffe der Aufregung in der Vorentscheidung geschuldet waren, bestätigen sich und ich finde es eine tolle Sache, dass man im Hoffnungslauf noch eine Chance bekommen kann, es sei denn, man hat in der Vorentscheidung so drastisch ins Klo gegriffen, dass man sofort rausgewählt wird – dann findet die zweite Chance eben erst nächstes Jahr statt. Man hat dann ja auch sehr viel Zeit zum Üben…

Alles in allem waren es mal wieder sehr aufregende, anstrengende, aber wunderbare Stunden. Wir haben ebenso gekämpft wie die Gruppen, mit all unserem musikalischem (und pädagogischem) Wissen, welches wir versucht haben, auf diesen Augenblick zu komprimieren. Wir haben uns als Jury in ein bestehendes System eingefügt, ohne jedoch die Ausnahme von der Regel zu missachten. Wir haben, so gut wir konnten, Kopf und Herz gekoppelt und leiden daher natürlich immer auch mit den Ausgeschiedenen, von denen wir hoffen, dass sie sich durchbeißen und im nächsten Jahr wieder dabei sind – ebenso wie wir vier aus der Vorentscheidungsjury. Ihr Sänger und Sängerinnen habt uns letztendlich einen unvergessenen Tag bereitet – dafür wollen wir uns bei euch wirklich einmal bedanken!

Nun ziehen wir ins Audi Max. Nun müssen Andere bewerten und ich weiß, sie werden es nicht leicht haben, aber dieses ist nunmal der größte deutsche Singewettstreit und da kann es immer nur EINEN geben…

Bis nächstes Jahr, eure Cantalle, PBN-Themiskyra, Hamburg.

Von:

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