Singadjo – „Auf Start“
Lange war sie angekündigt und mit der Zeit stiegen die Erwartungen an die erste CD von „Singadjo“, der Kapelle aus Köln, die mehrfach als Singegruppe den Peter-Rohland-Wettstreit auf der Burg Waldeck gewonnen hat. „Auf Start“ heißt ihr Erstlingswerk, dessen Release sie am 28.11. gefeiert haben. „Singadjo“ schaffen es, damit ihren bündischen Wurzeln zu entwachsen und zugleich treu zu bleiben. Ihre Lieder sind es wert, gehört und gesungen zu werden, auch wenn sich die Band ein bisschen mehr Mühe bei der Aufnahme hätte geben können.
Die ganze CD erzählt eine Geschichte vom Unterwegs-Sein oder der Sehnsucht danach. Mit „Auf Start“ geht’s los, über „Marrakech“ nach „Hampi“ und weiter bis nach Mexiko, wo die „Kneipenphilosophen“ sich beim Kopfschütteln über die Welt und die Frauen kurz ausruhen. Aber dann reißen sie wieder aus, sind nach nur einem Schritt wieder auf der Reise, „Bobbys Fernweh“ folgend, um „Wieder ans Meer“ zu kommen und hin „Zum Nebel“. Darum schließt die Scheibe auch mit dem „Aussteiger-Ska“, in dem den Singadjos das Drüber und Drunter zu viel wird: „deshalb sind wir jetzt raus“!
„Auf Start“ ist voller wunderbarer Lieder, die erfahrbar machen, woher „Singadjo“ kommen: Im Kern waren sie mal der „Bergische Orden“ des Zugvogel, und die Lust auf die Fahrt in die Ferne steckt ihnen tief den Knochen! Musikalisch haben sie sich auf dem Weg zur Band hingegen deutlich erweitert, stilistisch wie auch personell, zum Schluss gottseidank auch noch um eine Frau: Esther Neustadts bezauberndes Sopransaxophon geht zu Unrecht etwas im Arrangement unter!
Die neun Männer – und eine Frau! – haben sich den Bandnamen „Singadjo“ gegeben, ein Kunstwort aus „Sing“ und „Gadjo“, der Bezeichnung der Roma für diejenigen, die nicht zu ihnen gehören. Das kann man als Referenz ohne Anbiederung verstehen, und es passt zu ihrem Stil, den sie „gipsy latin folk“ nennen: Tatsächlich verquicken die Jungs (und das Mädel) so viele musikalische Stilrichtungen miteinander, dass „Folk“ (im Sinne von „Weltmusik“) der einzig passende Sammelbegriff ist.
Ihre Texte sind zwar meist etwas zu lang, um als Mitsing-Lieder zu taugen, aber dafür oft von augenzwinkernder Schönheit, insbesondere die von ruski alias Holger Technau, in denen eine symphatische Gesellschaftskritik mitschwingt.
Wäre „Auf Start“ ein Live-Mitschnitt, wäre es eine großartige Platte! Wer „Singadjo“ mal live erlebt hat, weiß, dass sie ordentlich einheizen können – und das erahnt man auch, wenn man die CD hört. Während live kleine rhythmische Unsauberheiten oder unperfekte Aussteuerung egal sind, weil es um die transportierte Stimmung geht, sind die Erwartungen an eine Studio-CD meist andere, und dahinter bleiben die Singadjos leider zurück: In der Hoffnung, dann zu klingen wie live – nur leider ohne die entsprechende Athmosphäre – haben sie vieles wohl gemeinsam „am Stück“ eingespielt, und das hört man halt auch. Oft spielen nicht alle rhythmisch synchron, und die Instrumente sind nicht fein genug ausgesteuert, wodurch manche leider im Gesamtklang untergehen, während andere oft zu laut sind (vor allem das Akkordeon; ja, das sage gerade ich!).
Gesanglich sind die mehrstimmigen Arrangements meistens dicht und prägnant. In der Instrumentierung wäre manchmal weniger mehr gewesen: Es spielen fast immer alle gleichzeitig. Das fällt insbesondere dann auf, wenn mal nicht alle spielen, weil es dann viel durchsichtiger und nachvollziehbarer wird, zugleich aber auch gewisse „Unebenheiten“ deutlicher zutage treten.
Dadurch, dass auf „Auf Start“ fast alle Instrumente bei fast allen Liedern am Start sind, bleibt sich der Sound relativ gleich, während „Singadjo“ bei genauerem Hinhören eine erstaunliche Vielfalt in den einzelnen Songs beweist.
Das namensgebende „Auf Start“ treibt zum Starten und ist das perfekte Eröffnungslied für so eine Scheibe. Im Vergleich zu „Marrakech“ trifft im darauf folgenden „Hampi“ die Komposition von plauder den orientalischen Sound deutlich besser – aber es spielt ja auch weiter östlich und beschreibt die Reise über Istanbul bis nach Indien.
„Adiós Negrita“ trifft den gewünschten mexikanischen Ton – auch wenn „Singadjo“ zwischendrin ein bisschen Balkan einstreut und von der Rhumba zum Mariachi-Sound übergeht: „Heute feiern wir nochmal und zerstören dies‘ Lokal und dann lasse ich von dir“ – eine meiner Lieblings-Abschiedszeilen ever!
Und wo wir bei Lieblingen sind: „Kneipenphilosophen“ ist mein Lieblingslied auf „Auf Start“ und vielleicht das ehrlichste von allen: Man sieht die Jungs (und das Mädel?) förmlich in der Kneipe über’m Bier hängen und philosophierend die ganz großen Fragen wälzen, die nach „Gut oder Böse“ und der eigenen Mitschuld am Übel der Welt – um jeweils zu schlussfolgern: „Lasst uns noch was bestellen.“
Zwei Lieder, die sich z.T. bereits zu Klassikern auf bündischen Festen entwickelt haben, sind auch auf der Platte: „Hässlich und Böse (und dumm bist du!)“, in dem taps über die Entwicklung seiner Partnerin klagt, ist auf eine traditionelle Melodie komponiert worden, die ebenso eingängig ist wie „Zum Nebel“: das „Fahrtenlied“ des russischen Barden Yuri Kukin, das fotler in seiner bewährten Weise übersetzt hat. Leider hört man dem Lied seine Zusammenstückelung am Anfang an.
Zwischen den Eigenkompositionen sind immer wieder traditionelle Stücke versteckt, die den „Singadjo“-Sound teils sogar eingängiger erleben lassen als die eigenen Lieder, so z.B. der Rembetiko-Klassiker „I Garsona“, den sie frech mit „Bay mir bistu sheyn“ verzwirbeln. Oder „Mangeur de Lune“, ein Song der unerreichbaren französichen Combo „Bratsch“, der in seiner Mehrstimmigkeit aber eindrucksvoll voll klingt. Mehrstimmig singen, das können die Singadjos.
Die CD ist Skynnie gewidmet, von dem der „Bonn Appetit Dreamer“ stammt, der auch schon auf der Zugvogel-CD „so jung“ drauf war und von der Freiheit erzählt. Wie schon dort: berührend. Die hinzugekommenen Trommeln im Hintergrund stören leider nur.
Mit „Bobbys Fernweh“ nimmt die CD wieder Schwung auf, um mit „Wieder ans Meer“ leider gleich wieder abzubremsen, dafür aber einen neuen Sound zu bekommen, der an Element of Crime erinnert. Bass, Akkordeon und Bläser dürfen hier mal lange Noten spielen!
Und plötzlich singen die Singadjos ukrainisch und a capella: „Chi Znayesh Ti“ – saugeiles Lied, aber auf dieser CD irgendwie fehl am Platz, wirkt es doch wie: „Schaut, das können wir auch!“
Und am Ende zeigen sie doch tatsächlich, dass sie auch „(Aussteiger-)Ska“ können – naja, leider „klackert“ es dazu etwas zu viel, sie sind halt nicht alle gleichzeitig auf dem Punkt, was insbesondere für Ska sehr wichtig wäre.
Insgesamt ist „Auf Start“ eine Scheibe geworden, die man eher nicht in der heimischen Anlage, sondern viel besser unterwegs hören sollte: am besten auf großer Fahrt in den knarzenden Lautsprechern an Bord eines alten „Blümchenbusses“, wie er auch das Cover und das übrigens sehr liebevoll gestaltete Booklet ziert. Denn eins ist klar: Diese Lieder sind „abgefüllt … mit Freiheit und mit Licht“.
Rezension von Bernard
Reinhören: https://soundcloud.com/singadjo
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